Mit großer Sorge haben wir in den vergangenen Monaten eine Entwicklung an den Niststränden der Unechten Karettschildkröte (Caretta caretta) mitverfolgt. In einem nie dagewesenen Ausmaß sind dieses Jahr Massen an Tourist*innen durch Touranbieter des sogenannten „Turtle Watchings“ an die Strände der kapverdischen Insel Boa Vista gekommen und haben das sensible Ökosystem erheblich zum Wanken gebracht. Immer mehr und immer waghalsiger befahren sie die Strände während der Nächte mit Pick-ups, nähern sich in aufdringlicher Weise den nistenden Weibchen und gefährden dadurch mögliche Eiablagen. Grundsätzlich ist das Beobachten der Tiere beim Nestbau möglich und stört die Tiere nicht. Allerdings müssen dazu ein paar Dinge beachtet werden, an deren Relevanz wir gerne erinnern.
Wichtige Verhaltensregeln fürs Turtle Watching
Wir verstehen das sogenannte Turtle Watching als eine gute Möglichkeit für die lokale Bevölkerung, ein alternatives Einkommen zu generieren. Gleichzeitig kann es einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Einstellung im Hinblick auf die Schildkröten verändert. Denn auf Dauer lässt sich mit einer gesunden Nistpopulation mehr Geld verdienen, als wenn man die Tiere tötet, ihr Fleisch verkauft und damit ihren Fortbestand gefährdet.
Aber … und hier kommt jetzt das große Allerdings: Es ist wichtig, dass ein paar Regeln eingehalten werden, um die Schildkröten nicht zu stören. Insbesondere muss darauf geachtet werden, kein helles Licht zu verwenden (Blitzlicht oder weiß leuchtende Taschenlampen) und sich respektvoll, mit ausreichendem Abstand und nur von hinten den Tieren zu nähern, wenn sie mit der Eiablage begonnen haben.
Schildkröte bei der Eiablage im roten Licht, da dies sie nicht irritiert
Um ein Mindestmaß an Sicherheit vorauszusetzen, darf man vielerorts – und so auch auf Boa Vista – nur mit lizensierten Tourenanbietern an die Niststrände gehen sowie diese ausschließlich an dafür geeigneten Stellen befahren. Die Teilnehmeranzahl pro Gruppe ist auf acht begrenzt und die Teilnehmenden müssen unbedingt den Anweisungen der geschulten Guides folgen.
In der Vergangenheit hat dies einigermaßen funktioniert. Die Lizenzen werden von den Anbietern bei der lokalen Dienststelle des Umweltministeriums beantragt. Daraufhin werden die Touren bestimmten Stränden zugeteilt, sodass sich die Besuchenden gleichmäßig verteilen. Eigens von der Behörde beauftragte Community Guards kontrollieren an bestimmten Checkpoints die Tageslizenzen und überprüfen die Anzahl der jeweiligen Gäste.
Overtourism: Kapazitäten an den Stränden überschritten
Aus der Berechnung der Anzahl von Touren und Gästen sowie den Stränden, die für das Turtle Watching freigegeben wurden, wird eine Kapazitätsgrenze ermittelt. Bis 2019 konnten wir einen stetigen Anstieg der Touren und -anbieter bemerken. In diesem Jahr jedoch ist das Turtle Watching in einer Weise explodiert, dass die Kapazitätsgrenzen der Strände deutlich überschritten wurden. In der Tourismusbranche spricht man bei diesem Phänomen von Übertourismus (englisch „Overtourism“). Schildkrötenschützer wie unsere kapverdische Schwester Fundação Tartaruga werden bei der Arbeit zunehmend gestört und können nicht mehr in Ruhe die Nistaktivitäten erfassen, weil die Strände von Menschen überrannt werden. Schildkröten werden bei der Eiablage gestört und vor allem Pick-ups brettern ungeniert über Dünen und Strände, um ihre zahlenden Gäste so nah wie möglich ans Geschehen zu bringen.
Unechte Karettschildkröte baut Nest in Reifen-spuren im Sand
Situation außer Kontrolle geraten
Derzeit gibt es auf Boa Vista 13 offiziell registrierte Touranbieter, die berechtigt sind, Tageslizenzen zu beantragen. Nach und nach ist die Lage jedoch eskaliert – mittlerweile ist sie völlig außer Kontrolle geraten. Die lokale Dienststelle des Umweltministeriums hat den Überblick über die Lizenzen verloren und die Community Guards schaffen es nicht mehr, die Flut der Fahrzeuge zu kontrollieren. Zudem müssen sie sich Beschimpfungen anhören, wenn sie auf überschrittene Höchstzahlen der Gäste oder fehlende Lizenzen hinweisen. Mittlerweile gilt das Recht des Stärkeren, maximale Personenzahlen bleiben unbeachtet. An den Stränden herrscht Chaos.
Was können wir als Turtle Foundation dagegen tun?
Wir selbst haben leider keine Handhabe in diesem Gemenge aus Lizenzen und deren Kontrolle. Was wir aber seit einiger Zeit tun, ist, alles akribisch zu dokumentieren, was uns an den Niststränden der Unechten Karettschildkröte auffällt, um dies wiederum an die entsprechende Behörde in der Inselhauptstadt weiterzuleiten. Es häufen sich die Vorfälle, in denen Fahrzeuge verbotenerweise direkt an unserer Hatchery vorbei zu den Stränden im Osten der Insel fahren. Vor allem für unsere Mitarbeiter*innen und Freiwilligen des Volunteer-Programms im Camp Lacacão hat sich die gesamte Situation zu einem extremen Stressfaktor entwickelt, bei dem ständig mit aggressiven Reaktionen vonseiten der Tour Guides gerechnet werden muss. Gar nicht erst daran zu denken, was der nächtliche Tumult an den vormals einsamen Stränden für die Schildkröten bedeutet …
Es bewegt sich etwas
Kürzlich ist endlich Bewegung in die Sache gekommen. Unsere Berichte wurden von den zuständigen Ministerien ernst genommen und der Minister für Landwirtschaft und Naturschutz, Dr. Gilberto Silva, hat der Insel zusammen mit der Beauftragten für den nationalen Schildkrötenschutz einen Besuch abgestattet, um die Lage vor Ort in Augenschein zu nehmen. Im Rahmen dessen wurde ebenfalls ein Besuch in unserem Strandschutzcamp Lacacão umgesetzt, der dem Minister die Möglichkeit gab, sich von unserer Arbeit ein Bild zu machen. Wir erhoffen uns, dass nun Taten folgen werden. Möglicherweise nicht mehr rechtzeitig in dieser Nistsaison, aber für kommende Saisons ist es wesentlich, dass die Anstrengungen zur Überwachung des Turtle Watchings deutlich ausgebaut werden.
Keine Einnahmen für Turtle Foundation aus Turtle Watching
Übrigens generieren wir als Turtle Foundation bzw. Fundação Tartaruga keinerlei Einnahmen aus derartigen Turtle-Watching-Touren. Wir sind der Meinung, dass diese Ressource der Bevölkerung der kapverdischen Insel zusteht. Leider mussten wir jedoch feststellen, dass der Großteil der Einnahmen nicht im Land bleibt, sondern in den Taschen der großen, international tätigen Tourismusanbieter landet. Es gibt tatsächlich nur wenige Einheimische, die legal an diesem Geschäft beteiligt sind, wie beispielsweise einige Taxi- oder Pick-up-Fahrer.
Unser Tipp für dich
Du planst eine Reise nach Boa Vista und spielst mit dem Gedanken, eine Exkursion zu den nistenden Meeresschildkröten zu machen? Dann achte bitte unbedingt darauf, dass du dich nur zu einer offiziell lizensierten Tour anmeldest, an der insgesamt nicht mehr als acht Personen teilnehmen. Zum aktuellen Zeitpunkt – Stand September 2024 – können wir jedoch nur noch davon abraten, denn gegenwärtig sind die Strände deutlich überlaufen und eine Tour ist aus ökologischen Gründen nicht vertretbar.
Wenn du stattdessen aktiv dazu beitragen möchtest, dass die Schildkröten ihre Eier geschützt an den Niststränden ablegen können, kannst du uns zum Beispiel mit der Übernahme einer symbolischen Patenschaft für eine Unechte Karettschildkröte aktiv unterstützen.