Die heute lebenden Schildkröten haben keine Zähne. Schildkröten sind natürlich aus bezahnten Vorfahren hervorgegangen, aber man weiß auch aus entwicklungsbiologischen Forschungen und Untersuchungen von Fossilien, dass der Verlust der Zähne bei den Schildkröten schon sehr lange her ist. Die bis vor kurzem letzte bekannte bezahnte Schildkröte lebte vor etwa 190 Millionen Jahren, das war eine Zeit am Anfang des Zeitalters des Jura, als die Dinosaurier noch gar nicht so lange aus ihren entwicklungsgeschichtlichen Flegeljahren heraus waren und der urzeitliche Riesenkontinent Pangäa gerade erst zu zerfallen anfing. Die Schildkröten waren damals schon lange etablierte Mitglieder einer prosperierenden Paläofauna.

Nun hat aber jüngst ein internationales Forscherteam, zu dem auch Wissenschaftler der Universität Tübingen gehörten, in der chinesischen Wüstenprovinz Xinjiang ein wesentlich jüngeres Schildkrötenfossil entdeckt, das immer noch Zähne hatte. Dieses Tier lebte noch vor etwa 160 Millionen Jahren im ausgehenden Jura, also in der ersten richtigen Blütezeit der Dinosaurier. Das Gebiss dieser Schildkröte war zwar schon sehr reduziert, wie man es auch von ähnlich alten Arten kannte. Im Gegensatz zu diesen zeigten sich aber auf dem Gaumen des neuen Fossils ganz eindeutig echte Zähne. Dies brachte dem auch Tier seinen wissenschaftlichen Namen Sichuanchelys palatodentata ein, was so viel bedeutet wie „Sichuan-Schildkröte mit dem bezahnten Gaumen“.

Sichuanchelys palatodentata reconstruction of palate from Lida Xing

Sichuanchelys palatodentata: Rekonstruktionszeichnung des bezahnten Gaumens (Bild: Lida Xing)

Die uns geläufigsten Wirbeltiere ohne Zähne, aber wie die Schildkröten versehen mit einem scharfen Hornschnabel, sind die Vögel, die aus zahnbewehrten Raubdinosauriern hervorgegangen sind. Immerhin hatte der älteste bekannte Vogel-Vorfahr Archaeopteryx, mit etwa 150 Millionen Jahren immer noch jünger als Sichuanchelys, noch ein ordentliches Gebiss. Dies führt zu der interessanten Frage, warum denn nun einige große Tiergruppen ihre Zähne verloren haben, wo diese für uns doch so selbstverständlich und lebensnotwendig erscheinen, und dabei dennoch so erfolgreich sind.

Archaeopteryx chasing a juvenile Compsognathus (Wikipedia)

Archaeopteryx bei der Jagd: Lebendrekonstruktion des bekannten bezahnten Vogelvorfahrs (Bild: Wikipedia)

Für uns Menschen und einen großen Teil der anderen Säugetiere ist es selbstverständlich, die Nahrung gründlich zu kauen. Vor allem pflanzliche Nahrung kann dabei schon vor dem Schlucken zerkleinert und mit Enzymen durchsetzt werden, was die Verdauung erheblich erleichtert und beschleunigt. Für diese warmblütigen Tiere mit ihrem hohen Energiebedarf ist es in der Tat auch notwendig, die enthaltene Enrgie der Nahrung ihrem schnellen Stoffwechsel möglichst rasch bereitzustellen.

Wenn man aber Reptilien betrachtet, auch solche mit guten Zähnen, schlagen diese sich nicht lange mit Kauen herum: die Nahrung, meist andere Tiere, muss festgehalten werden, und nach dem Töten kommt es lediglich darauf an, schluckbare Stücke herauszureißen, sofern die Nahrung nicht sogar gleich im Ganzen heruntergewürgt wird. Wirft man nun einen näheren Blick auf die Zähne etwa eines Krokodils, erkennt man, dass dessen Zähne auch nicht zu viel mehr in der Lage sind: Die Zähne sind spitz und kegelförmig und sehen praktisch alle gleich aus. Man findet dort kaum eine Spur von dieser säugetier-typischen Differenzierung des Gebisses in Mahl-, Reiß- und Schneidezähne, oder gar von dem hohen Grad an Spezialisierung der Zähne wie etwa bei Nagetieren und den wiederkäuenden Huftieren.

Crocodyle Osteolaemus tetraspis (Wikipedia)

Das Stumpfkrokodil Osteolaemus tetraspis zeigt die reptilientypisch relativ gleichförmigen Zähne. (Bild: Wikipedia)

Ein Hornschnabel kann allerdings schon ein bisschen mehr als ein typisches Reptiliengebiss: Mit ihm lassen sich sehr präzise handliche Stücke aus der Nahrung regelrecht herausschneiden oder brechen. Zudem sind Hornschnäbel leicht und sehr anpassungsfähig. Dadurch lassen sich nun neue Nahrungsquellen erschließen, mit denen andere Reptilien mit ihren typischen Kegelzähnen große Probleme haben würden. Hierzu gehört etwa hartschalige Nahrung wie Muscheln und Krebse, die von einigen Meeresschildkrötenarten mit ihren scharfen und kräftigen Hornschnäbeln mühelos geknackt werden.

Green turtle surfacing

Schildkröten wie diese Grüne Meeresschildkröte beißen auch ohne Zähne kräftig zu. (Bild: Turtle Foundation)

Letztlich können wir nur spekulieren, warum die Schildkröten im Laufe ihrer langen Entwicklungsgeschichte ihre Zähne verloren haben und damit so erfolgreich geworden sind. Die Evolution dieser Tiere, die unter anderem zu unseren beliebten und jetzt so bedrohten Meeresbewohnern geführt hat, ist ein faszinierendes Kapitel in der Geschichte des Lebens, das wir künftig in Newslettern und Blogs immer wieder mal beleuchten werden.

Weitere Informationen zur Neuentdeckung der bezahnten Schildkröte finden Sie auf dieser Seite der Universität Tübingen: https://www.uni-tuebingen.de/newsfullview-landingpage/article/noch-vor-160-millionen-jahren-hatten-schildkroeten-zaehne.html

Die Originalveröffentlichung vom Oktober 2016 zu Sichuanchelys gibt es online unter diesem Link zu lesen: https://bmcevolbiol.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12862-016-0762-5

Titelbild: Rekonstruktion der neu entdeckten bezahnten Schildkröte Sichuanchelys palatodentata aus dem Oberen Jura der westlichen Wüstenregion Chinas. Künstlerische Darstellung: Lida Xing